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Tscheuschner, Ralf D. + Schindler, Steffen
Ist Meta-Musik moeglich?
Scrollheim 1/91
.................................................. ....... Computer koennen offensichtlich fuer kuenstlerische Zwecke eingesetzt werden - aber definiert das Medium "Computer" eine neue Qualitaet von Kunst?

Die revolutionaeren Entwicklungen der kuenstlichen Intelligenz (KI) und der Computer-Simulation rechtfertigen die Frage:

Kann nicht "der Computer" (als Hard- und Software) selbst "kreativ" oder "kuenstlerisch taetig" sein? Die unmittelbare Antwort heisst natuerlich "Nein". (Es werde ja auch niemals kuenstliche Menschen, kuenstliches Bewusstsein und kuenstliche Gefuehle geben.)

Dieser Standpunkt entspricht dem gesunden Menschenverstand und ist daher unbegruendet.

Der exakte Naturwissenschaftler wird hingegen so argumentieren: "Everything is physics", und wenn wir die Kreativitaet eines Menschens als einen objektiven physikalischen Prozess auffassen, dann sollte dieser zumindestens prinzipiell auf einem Computersystem nachzubilden sein.

Die Modellierung von Naturvorgaengen, die durch objektive Gesetzmaessigkeiten beschrieben werden, ist eine Standard-Methode der Theoretischen Physik. Und obwohl die fundamentalen Naturgesetze in einer exakten, mathematischen Sprache formuliert sind, haben sie in der Regel "nur" einen statistischen Charakter; sie machen lediglich Wahrscheinlichkeitsaussagen:

Gar nicht nach Einstein: "Gott wuerfelt staendig". (Indem Albert Einstein sagte: "Gott wuerfelt nicht", formulierte er seinen beruehmten Einwand gegen den statistischen Charakter der grundlegenden quantenmechanischen Naturgesetze. In diesem Punkt hat er wohl nicht Recht gehabt.)

Trotz ihres stochastischen Charakters scheinen die Naturgesetze aber dergestalt zu sein, dass sie die spontane Bildung von Strukturen aus dem "Chaos" implizieren: Dies ist wohl nichts anderes als "Das Prinzip Schoepfung".

Der numerisch-experimentell arbeitende theoretische Physiker modelliert in der Tat kleine Mini-Universen auf dem Computer. In seinen Monte-Carlo-Runs schaut er sich die Auswirkungen vorgegebener "Naturgesetze" an - auf einer hypothetischen vierdimensionalen Raum-Zeit mit 10 mal 10 mal 10 mal 10 Punkten oder vielleicht 20 mal 20 mal 20 mal 20 Punkten - wenn die Rechenkapazitaet doch etwas groesser sein sollte.

Solche simulierten Systeme sind natuerlich ueber-vereinfacht, aber sie zeigen ein fundamentales Prinzip: Ein Computer-Programm, welches selbst kreativ taetig ist, muss den Zufall genauso respektieren wie die Gesetzlichkeit, die von dem bedienenden uebergeordneten Wissenschaftler oder auch dem uebergeordneten Kuenstler, dem Meta-Kuenstler, vorzugeben ist.

Die Begriffe "Meta-Kunst" und "Meta-Musik" sind fuer das, was wir machen, unserer Auffassung nach sehr treffend:

Das Wort "meta" kommt aus dem Griechischen und hat die Bedeutung von "nach, spaeter, darueber hinausgehend, hinter". Mit "metata physica biblia" wurde in der Bibliothek von Alexandria alles bezeichnet, was nicht direkt mit der Physik zu tun hatte und somit ausserhalb oder hinter ihr stand. Insbesondere verstand man darunter die Schriften des Aristoteles ueber die ersten Ursachen, die im Anschluss an seine Buecher ueber die Physik herausgegeben wurden, naemlich die Buecher ueber Theologie, Logik, Rhetorik, Ethik, das Lachen, etc. Spaeter verstand man unter "Metaphysik" ganz allgemein die Lehre von den Gruenden und Zusammenhaengen des Seienden; heute ist diese Lehre mit der Physik selbst zu identifizieren: "Naturwissenschaft als Fortsetzung der Metaphysik mit anderen Mitteln".

Der Begriff "Meta-Wissenschaft" beschreibt im allgemeinen eine Wissenschaft ueber eine andere Wissenschaft. Entsprechend ist die "Meta-Ebene" eine ueber einem konkreten Sachverhalt liegende abstraktere Ebene, die eben diesen Sachverhalt beschreibt. Entsprechend definieren wir "Meta-Kunst" als ein Form, in dessen Framework in heuristischer Weise die Regeln kreiert werden, nach denen der Computer agiert. Der Meta-Kuenstler bestimmt die Kunstgesetze, nach denen der Computer im Rahmen eines verallgemeinerten Wuerfelspiels Strukturen organisiert.

Somit gibt es sowohl einen stochastischen als auch einen algorithmischen Aspekt in einem solchen System von Organisation und Ausfuehrung, das wir "Meta-Kunst" oder "Meta-Musik" nennen wollen. Es ist die Justierung dieser beiden Qualitaeten gegeneinander, die entscheidet, was dabei herauskommt. Lass uns ein Programm schreiben, das Zufallsbilder auf einem Schwarz-Weiss-Computer-Monitor erzeugt: Wir haben 640 mal 400 Bildpunkte zur Verfuegung und das Programm wuerfelt fuer jeden Punkt mit einer Wahrscheinlichkeit 1:1 aus, ob er hell oder dunkel wird. Ergebnis: Sendeschluss. Andere Moeglichkeit: Wir lassen den Wuerfel entscheiden, welches von sechs vorher eingescannten Bildern auf dem Monitor erscheint. Es ist klar, dass gute Computerkunst nur ein Kompromiss zwischen diesen an sich sehr repulsiven Moeglichkeiten darstellen kann.

Ein solches Programm ist Wald Drei von Nico Jordt. Jordt verwendet einfache Wachstumsalgorithmen, die bei jedem Run neue Bilder generieren, denen aber dieselben Gesetzmaessigkeiten zugrunde liegen: Die "stochastisch-algorithmisch Naive" oder: Ein einfaches Spielmodell fuer die Entstehung fraktaler Strukturen in simulierten Wachstumsprozessen. Die Abbildungen zeigen verschiedene Runs ein und desselben Programms: Es sind die zufaelligen Elemente in einem vorgegebenen Schema, die zu immer neuen Waeldern fuehren.

Nach diesem Prinzip lassen wir den Computer Musik komponieren und es funktioniert. Wir nennen es "Computer Aided Improvising And Composing" oder kurz "CAIAC".

CAIAC is a computer program designed for interactive composing and improvising. Scientific results on human emotional fluctuations as well as results from musicology are encoded into the "intelligence" of this software such that the user encounters an almost complete substitute for a well-trained spontaneously acting musician with "feeling". The structure of this program is modular and may be extended to include all possible styles and tonalities. The current version is especially suited for pop- and jazz-rock live performances.

CAIAC emerged as a by-product of an interdisciplinary research program at Hamburg University connecting musicology, computer science, and physics. Steffen Schindler is writing his diploma thesis in computer science on questions concerned with the realization and implementation of autocomposition systems on home computers like the Atari ST series. One of his supervisors, Ralf D. Tscheuschner is theoretical physicist also giving lectures on topics connecting music and physics. Supervising professor is Klaus Brunnstein, the well-known computer-virus-crisis expert of Hamburg University.

CAIAC is an interactive computer program that contrasts with other musical and artistic software by not only being a tool but also possessing the qualities of a work of art. On the other hand CAIAC does not belong to conventional computer art, since it is creative in itself producing new structures which cannot be predicted in advance. This was realized by the programmers by modeling self-organization (= a complex system dynamicall determines the rules according to which it acts), growth algorithms, and random processes (= sophisticated games of dice) on a digital computer studied in modern physics, especially in chaos theory, in dynamics of cellular automata, and in statistical mechanics of open systems (synergetics).

Unlike other software CAIAC does not create "music from fractals" but it "does know" the laws describing the universal fractal structure observed in music, emotional fluctuations, and many other phenomena in nature. We do not take a physical formula and naively convert the values of a function into the values of a scale of notes and look what happens, but we use the results of a more general analysis of music. Hence we also took into account the linguistic aspects of musical, harmonic, and rhythmic traditions.

Though it is possible to create completely random and new structures, we nevertheless are able to stay in touch with the blues, rock, and jazz world. Also classical styles may be included. But our program is 'by no means' a simulator of a classical composer: It is not an expert system (essentially a huge storage of all what is known about a historical musician or style) but synthesizes the musical structures from scratch. This requires a deep analytical understanding of what music is all about beyond the theory of scales, chords, and rhythms.

Philosophically speaking, CAIAC is a meta-composition.
CAIAC is specifically designed for real-time performance using interrupt resp. multitaskin techniques. The user surface is easily understandable on its own (i.e. self-explaining) and consists of ten pages, which may be switched between without interrupting the musical data stream. The keys of the computer keyboard are used as real-time controllers changing the boundary conditions for the random composing algorithms. Presets may be stored and reloaded. In addition, an oscilloscope-like screen shows what is going on. An live-play-in option is in preparation, which allows to play themes on a synthesizer keyboard which are interpreted by the program.

Finally, any performance may be stored as a standard MIDI file for proper post-production work.

STATEMENT OF OUR ARTISTIC APPROACH TO COMPUTERS: We use the computer as a device for s(t)imulation.

As it is well-known, great artists are often inspired by the multiplicity and abundance of forms of nature. Conversely, structures in nature are described by physical laws, and chaos theory taught us that many structures may be generated by algorithms implementable on a digital computer. For example, our programm contains a melody generator which creates random themes, which are "singable". We think that, on principle, one can use this to create an artificial, stimulating environment for the creative musician.

But our perspective goes far beyond this: Including algorithms which also interpret what is played we finally will be able to create a hyper-instrument responding to the finest nuances of the player much like Stradivari"s violin.

Im Jahre 1806 erschien in London das folgende Wuerfelspiel:

Contre-Taenze, oder Anglaises, mit 2 Wuerfeln zu componiren, ohne Musikalisch zu seyn, noch etwas von der Composition zu verstehen.

1) Die grossen Buchstaben A, bis H, welche ueber den 8. Colonnen der Zahlentafeln stehen, zeigen die 8. Tackte eines jeden Theils des Tanzes an. z.E. A, den ersten; B, den zweiten; C, den dritten; u.s.w. und die Zahlen in der Colonne darunter, zeigen die Nummer des Tackts in den Noten. 2. Die Zahlen 2, bis 12. geben die Summe der Zahl an, welche man mit zwei Wuerfeln werfen kann. 3. Man wirft also z.E. fuer den ersten Tackt des ersten Theil des Tanzes mit 2. Wuerfeln 6. und sucht neben der Zahl 6. in der Colonne A, die Nummer des Tackts 105. in der Musiktafel. Diesen Tackt schreibt man aus und hat also den Anfang des Tanzes. Nun wirft man fuer den zweiten Tackt z. E. 8. sucht neben 8 unter B, und findet 81. in der Musiktafel. Diesen Tackt schreibt man nun zum ersten; und so faehrt man fort, bis man nach 8 Wuerfen den ersten Theil des Tanzes fertig hat. Dann setzt man das Repetitionszeichen und geht zum zweiten Theile ueber.

Auch wenn es bisher nicht bewiesen ist, so deutet doch vieles darauf hin, dass diese sehr einfache Kompositionsvorschrift von Wolfgang Amadeus Mozart stammt.

copyright: Tscheuschner, Ralf D. + Schindler, Steffen

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